Divergenz und Konvergenz im Kontext von New Work

Die moderne Arbeitswelt wird immer komplexer, globale Krisen stellen Organisationen vor neue Herausforderungen – und damit auch ihre Geschäftsmodelle und Arbeitsweisen. Konzepte wie New Work, Nachhaltigkeit oder Agilität werden dabei häufig als Schlüsselbegriffe angeführt, wenn es darum geht, die Arbeit von morgen zu gestalten.

Any company designed for success in the 20th century is doomed to failure in the 21st century. – David S. Rose

Viele Begriffe aus dem New-Work-Kontext, wie „Selbstorganisation“, „Diversität“, „Purpose“ oder „Partizipation“ werden oft wie selbstverständlich als Antworten auf drängende Organisationsprobleme eingesetzt. Ich stellte mir daraufhin die Frage: Was steckt aus systemtheoretischer Sicht dahinter, und was können wir daraus für die Praxis ableiten?

Dieser Artikel beleuchtet einige der Begriffe im Kontext von Divergenz und Konvergenz. Ob in Physik, Biologie, Meteorologie, oder Mathematik, Divergenz und Konvergenz beschreiben überall denselben Grundgedanken: das Auseinanderstreben von Elementen und deren wieder Zusammenführen. Mir hat diese Perspektive geholfen zu verstehen, welche Wirkung New Work-Ansätze in Organisationen entfalten und wie wir diese so gestalten können, dass diese die gewünschte Wirkung entfalten. Denn die Praxis zeigt oft das Gegenteil: Viele Transformationsprojekte scheitern und hinterlassen Organisationen, in denen Verunsicherung, Erschöpfung und Zynismus wachsen statt Engagement und Innovationspotenzial. 

 

Nicht jede Organisation ist fit für New Work

 

Eine Grunderkenntnis möchte ich vorab teilen: nicht jede Organisation bietet gleichermaßen die entscheidenden Voraussetzungen für die Einführung von New-Work-Ansätzen und der größte Hebel für erfolgreiche New-Work-Transformation bleibt m. E. n. die grundlegende Frage, ob New Work überhaupt die Antwort auf das richtige Problem ist. Ohne zu Beginn die richtigen Fragen zu stellen, kann schlicht “am Problem vorbei transformiert” werden. 

Bevor wir einzelne New-Work-Konzepte beleuchten, möchte ich Divergenz und Konvergenz als zentrale Phasen in Veränderungsprozessen vorstellen. Als einfaches Beispiel lässt sich dafür zunächst ein Brainstorming betrachten. In der Divergenzphase werden neue Ideen eingebracht, Perspektiven gewechselt, Alternativen diskutiert und neue Themen erforscht. In der Konvergenzphase werden dann Ideen bewertet, Prioritäten gesetzt, Ziele vereinbart und getestet, was in der Praxis funktioniert. Dabei ist klar: Beide Phasen sind gleichermaßen notwendig, um produktive Ergebnisse zu erzielen. Dasselbe gilt für große Transformationsprojekte.

 

Divergenz fördern, aber Vorsicht

 

Divergenz in komplexen Organisationen wird durch Maßnahmen gefördert, wie z. B. die Einführung holokratischer Strukturen, cross-funktionales Arbeiten, höhere Mitarbeiterpartizipation oder mehr Diversität in der Belegschaft. Dadurch entstehen neue Räume, innerhalb derer neue Perspektiven und Erfahrungen aufeinandertreffen, die potenziell Spannung und Reibung erzeugen und woraus Neues entstehen kann. So banal das klingt, so oft wird vergessen, dass das genau das zentrale Versprechen von New Work ist: es soll die Fähigkeit von Organisationen erhöhen, sich in einer zunehmend komplexen Umwelt überlebens- und zukunftsfähig aufzustellen. 

Doch Vorsicht: solche Maßnahmen können schnell Chaos, Irritation und Orientierungslosigkeit verursachen. Kurzfristig ist dies ganz normal und sogar gewünscht, doch ohne die Einführung passender Strukturen, die das wieder einzufangen vermögen, kann die Situation schnell zur Überforderung führen.

Hier kommt Konvergenz ins Spiel.

 

Divergenz und Konvergenz in Balance

 

Konvergenz, also die Gegenbewegung zu Divergenz, entsteht, wenn klare Orientierungspunkte oder -rahmen gesetzt werden. Im Brainstorming ist das der Prozess, in dem man Ideen bewertet, aussortiert und priorisiert. Wenn eine Organisation neue Strukturen einführt, um den Austausch z.B. über Abteilungen oder die Organisationsgrenze hinweg zu begünstigen (Divergenz), würde Konvergenz dafür sorgen, dass der erhöhte Informationsfluss produktiv konsolidiert wird. Das kann durch einen starken Purpose oder neue Prozesse, Rollen und Verantwortlichkeiten sowie klare Entscheidungsrahmen geschehen.

 

Beispiel: Selbstorganisation

 

Ein bekanntes Lebensmittelunternehmen war von Anfang an selbstorganisiert (Holokratie) und legte hohen Wert auf Partizipation, individuelle Rollengestaltung und -weiterentwicklung sowie Stakeholdereinbindung. Hier lag der Fokus auf Divergenz und weniger auf Konvergenz. Die Folge war eine stark diversifizierte Produktentwicklung und Unternehmenskommunikation, die von außen inkonsistent und beliebig wirkte. Dies schadete zunehmend dem Geschäft und der allgemeinen Markenwahrnehmung. Kundenumfragen zeigten deutlich, dass der Markenkern diffus war und Kunden nicht wussten, wofür die Marke steht. Dem Unternehmen mangelte es nicht an Ideen und Antrieb diese umsetzen (Divergenz), aber es fehlten Strukturen, die sicherstellen, dass Ideen entlang von klaren Leitplanken umgesetzt werden (Konvergenz). Die Erkenntnis führte letztlich zu einem Change-Prozess, in welchem das Unternehmen einzelne Produktsparten einstellte und das Markenversprechen schärfte, und sich damit zurück an seine Wurzeln führte. 

Das Beispiel zeigt auch, dass Selbstorganisation im Sinne der Holo- oder Soziokratie nicht per se die bessere Organisationsform ist und selbst eine Organisation, die New Work täglich (vor-)lebt, nicht vor Change- und Transformationsbedarf geschützt ist. 

 

Beispiel: Diversitätsinitiativen und Stakeholderengagement

 

In meiner Arbeit als Beraterin habe ich immer wieder gesehen, dass sich für mehr Diversität in der Belegschaft eingesetzt wird. Diversität und Divergenz teilen sich den Wortstamm „diver-“ (von di- = auseinander + vertere/vergere = wenden/neigen), daher liegt nahe, dass Diversität Divergenz fördert. Praktisch geschieht das dadurch, dass eine höhere Diversität unter Mitarbeitenden dazu führt, dass unterschiedliche(re) Perspektiven aufeinandertreffen. Das birgt Konfliktpotenzial und genau da liegt der Hase im Pfeffer. Ich will nicht absprechen, dass es bereits eine Herausforderung sein kann, überhaupt mehr Diversität in die Organisation zu bringen, aber die aus meiner Sicht viel größere Herausforderung ist es, die passenden Strukturen zu schaffen, damit nicht nur Divergenz, sondern auch Konvergenz entsteht. Beim Thema Diversität betrifft das vor allem Strukturen, die eine konstruktive Konfliktkultur ermöglichen. Aus meiner Sicht ist das entscheidend für den Erfolg von Diversitätsinitiativen. Die Frage, die zu Beginn stets gestellt werden muss, ist also, ob die Organisation überhaupt die strukturelle Tragfähigkeit besitzt oder entwickeln kann, um aus Diversität eben jenes Innovationspotenzial zu schöpfen, das vielerseits angeführt wird? Wenn das nicht mit bedacht wird, ist Frustration vorprogrammiert und Diversitätsinitiativen werden wieder eingestellt bevor sie eine echt Chance hatten.

Ähnliches beobachtete ich bei Organisationen, die interne und externe Stakeholder stärker einbinden wollen. Regelmäßige Dialoge werden geführt, Foren eingerichtet, Plattformen etabliert, aber es wird kein klarer Rahmen kommuniziert, der regelt, was aus den daraus gewonnenen Daten und Informationen passiert. Die Organisation gewinnt also viele Einblicke in die Interessen verschiedener Stakeholdergruppen, aber diese können nur bedingt in wertschöpfende Handlungen übersetzt werden. Um sicherzustellen, dass die an der Stelle gebundenen Ressourcen effektiv genutzt werden, muss unbedingt klar sein, wie Entscheidungen und Handlungskonsequenzen ermittelt werden. Hier können u.a. Leitbilder, wie Mission, Vision, Purpose, eine wichtige Rolle spielen.

Was folgt nun aus diesem Wissen für die Praxis der Veränderungs- und Transformationsarbeit in Organisationen? Aus meiner Sicht ist ein naheliegender Rückschluss daraus zu ziehen und ich formuliere es einmal als Prinzip:

 

Divergenz braucht einen Plan für Konvergenz.

 

Ich beschreibe das Prinzip bewusst so, da es in meinen Augen den Organisationen, die aktiv eine Veränderung in Richtung mehr New Work anstreben, leichter fällt, Maßnahmen für divergierende Bewegung umzusetzen und dabei vergessen, gleichermaßen Maßnahmen für konvergierende Bewegung einzuführen. Dies ist sicher nicht der einzige Erfolgsfaktor für die Implementierung von New Work-Ansätzen, aber einer, der häufig übersehen wird.